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Gottfrieds "Tristan" und die generische Paradoxie
Date Issued
2008
Author(s)
DOI
10.1515/bgsl.2008.003
Abstract
Taking the example of Gottfried’s ›Tristan‹ it can be seen how a paradoxical relationship between epic literature and Minnesang is being established which, far before the era of lyric poetry, allows a certain lyrical quality to appear in the narrative. The narrative, stressing the aesthetical effect of the Sang on different levels and even imitating it, leads Ð especially in ›Tristan‹ Ð to certain effects which can be described as »poetical emergence«. On the one hand Gottfried’s narration Ð as in the sang Ð aims at overcoming its own undeniable temporal distance from the narrated by the contact-medium of voice. This is an attempt to sublate the narrative into a presence of its own, which is why it fails in the narrative course. On the other hand Tristan’s and Isolde’s failure and, likewise, that of their story and of its narrator turns out to be the prerequisite for aesthetically realizing the ideal of a time-exempt presence.
Die folgenden Überlegungen haben ein doppeltes Ziel: Sie möchten eine gattungstheoretische These aufstellen und sie am ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg praktisch verfolgen. Die gattungstheoretische Annahme sei zur Vereinfachung vorab genannt. Sie lautet, dass es zwischen Epik und Lyrik zu einem speziellen Ausschlussverhältnis kommen kann, das sich zugleich als Bedingungsverhältnis erweist. In diesem Falle beruht die epische Qualität narrativer Texte darauf, dass sie die lyrische Qualität in bestimmter Weise begrenzt, zugleich liegt aber in der lyrischen Qualität ein Präsenzversprechen, dem das Erzählen nachstrebt, ohne es je erreichen zu können. Umgekehrt muss dann gelten: die lyrische Qualität beruht darauf, dass sie Narrationen entgrenzt, was aber wiederum die Geschichte zu einer abwesenden Ursache für das lyrische Präsenzversprechen macht. Und das hieße für die Theoriefigur insgesamt: Das mögliche Spannungsverhältnis zwischen Epik und Lyrik beruht auf einer generischen Paradoxie. Es wäre nun noch nicht richtig, nur zu sagen, dass Gottfrieds ›Tristan‹ zur Illustration dieser These dienen kann. Vielmehr hat es den Anschein, als ob der ›Tristan‹ sie exempli fizier t. Auf den genauen Gebrauch des Exempelbegriffs kommt es hier an, denn in ihm wird die typische Zirkularität der literarischen Interpretationsbewegung besonders akzentuiert: Das Exempel bringt eine allgemeine Erkenntnis ästhetisch in Erfahrung und ist damit der theoretischen Einsicht, auf der es jeweils fußt, praktisch zugleich immer schon voraus.1 Diese Definition vorausgesetzt, bestünde die besondere ästhetische Qualität des ›Tristan‹ dann darin, dass Gottfrieds Roman die Konsequenz aus einer gattungstheoretischen Einsicht zieht, die wiederum schon eine Folge des über den Text angestoßenen ästhetischen Prozesses ist: In dieser doppelten Kreisbewegung würde dann die Frage nach dem Vorrang von Literaturtheorie und Praxis der Literatur gegenstandslos, weil der ›Tristan‹ diese Frage mit Hilfe genau jener paradoxen Struktur auflöst, die er bei der Relationierung von epischer und lyrischer Qualität modellhaft verwendet. Diese Vorannahmen erlauben es, sich im Folgenden praktisch auf den ›Tristan‹ zu konzentrieren. Die theoretischen Implikationen müssten sich im Interpretationsgang selbst aufklären, und man könnte ihre Ausformulierung hinten anstellen. Weil der implizite Theorievorschlag aber auch auf ein allgemeines Erklärungsmodell zielt, dürfte es die wissenschaftssystematische Einordnung erleichtern, wenn wenigstens dessen Eckpunkte als vorläufige Skizze expliziert werden, bevor es primär um den ›Tristan‹ geht.2 Dass man die folgende Interpretation auch ohne explizierte Theorieskizze lesen bzw. bei Bedarf die Lektüre der knappen Theorieexposition ans Ende stellen kann, müsste sich nach dem bisher Gesagten jedoch von selbst verstehen.
File(s)
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Name
bgsl.2008.003 (1)_Bleumer.pdf
Size
227.6 KB
Checksum (MD5)
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